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Der Mensch in der See
Das Lebendige in der Kunst
 
 
 
 
Tim Haberkorn
Der Mensch in der See


Wie Jona wird der Mensch in die See geworfen. Der Mensch sinkt wie Jona langsam in der See hinunter. Durch die helleren Wasserschichten, durch das Halbdunkel hindurch, gleitet er hinab in die Tiefe. Im besten Fall aufmerksam, entspannt, mit geöffneter Hand, wie "Der sinkende Prophet".


Die See und die Seele

Wenn wir wie Jona, als Geworfene und Sinkende, das Wasser und die See betrachten, zeigt sich, daß die See nicht nur ein äußeres Ding, sondern vor allem das Bild für unser Inneres ist. Diese stetig in Bewegung seiende See ist das Bild für das, was sich in uns allzeit und kontinuierlich bewegt in Empfindungen und Gedanken. Die See, ob sie nun heftig bewegt ist oder fast, sozusagen scheinbar ruhend nur ein Minimum an Bewegung zeigt, ob man nun die sichtbaren Bewegungen des Oberflächenwassers betrachtet oder die verborgenen und gewaltigen Strömungen der Tiefe erfaßt, ist das Bild für die Seele. Das irgendwie Unsichtbare und auch irgendwie nicht Greifbare – wir reden vom Wasser im flüssigen Aggregatszustand –, aber doch offensichtlich Körperhafte und Stoffliche ist ein Bild für die Seele. Diese an etwas Unkörperliches gemahnende Körperlichkeit zeichnet auch das seelische Leben aus: Die unsichtbare Seele existiert nur leibhaft. Das, wenn auch schwer greifbare, doch desto leichter berühr- und erregbare Wasser ist ein Bild für unser nicht greifbares, aber ebenso – zumindest an der Oberfläche – leicht erreg- und „berührbares“ Inneres. In der See lassen sich verschiedene Schichten unter-scheiden, und doch wird sie immer als Einheit wahrgenommen. So auch die Seele. In ihr lassen sich ebenfalls Bereiche voneinander unterscheiden, ohne daß sie voneinander getrennt werden könnten. Dieser Zusammenhang wird im Deutschen deutlich ausgesprochen. Die „See“ und die „Seele“, diese so ähnlichen Worte, sind in den germanischen Sprachen tatsächlich sprachgeschichtlich miteinander verwandt.1 Die See ist das Bild für die Seele.

1 S. DUDEN, Bd. 7, S. 662. Freilich besteht, obwohl es lautlich gesehen keine ernstzunehmende Alternative gibt, in den histori-schen Sprachwissenschaften kein Konsens über diesen zentralen anthropologischen Begriff. So bezeichnet KLUGE, 24. Aufl., 2002, die Herkunft des Wortes „Seele“ als „unklar“. Diese Unklarheit geht auf den 1899 erschienenen Bd. 15 des DEUTSCHEN WÖRTERBUCHS der Gebrüder Grimm zurück. Die in der Forschung bis dato herrschende Etymologie von „See“ wird zwar auch dort formal für am wahrscheinlichsten gehalten, da sie „lautlich sehr gut stimmt“, aber aus inhaltlichen Gründen als „künstliche, wenig einleuchtende construktion“ abgelehnt (Sp. 2851). Josef WEISWEILER weist dagegen in seinem Aufsatz „See und Seele“ (1939) darauf hin, daß die Germanen „in bestimmten `heiligen´ Seen Aufenthaltsorte der Seelen sahen“, und greift die ältere Position wieder auf (Indogermanische Forschungen, Bd. 57 (1939), S. 25-55, insb. 49). Siehe auch Hans-Peter HASENFRATZ: Die Seele. Einführung in ein religiöses Grundphänomen. Zürich 1986, 89f.
Angesichts des gewichtigen formalen Arguments, das recht eindeutig ausfällt, ist der Dissens unverständlich, wenn man nicht die zunehmende Problematisierung der Seele in den Geisteswissenschaften berücksichtigt, die von Kants Destruktion des Seelen-begriffs ausgeht. Zu Kants Destruktion siehe Kirsten HUXEL: Ontologie des seelischen Lebens, Kapitel II und Einleitung. Kant kommt freilich ohne die Sache selbst, auf die sich der Begriff „Seele“ bezieht, nicht aus, und so trägt er den Gegenstand wieder in sein System ein – unkritisch und unter anderem Namen. Wegweisend führt dies HUXEL in „Rekonstruktion der Theorie des Ge-müts, die dem transzendentalen Kritikunternehmen implizit zugrunde liegt“ aus (Ebd. S. 102-144).


Der neuere Begriff des „Bewußtseinsstroms“ hat zwar den älteren Begriff der „Seele“ etwas in den Hintergrund gedrängt, knüpft aber unmittelbar an die Wassermetaphorik der Seele an. Er gebraucht nicht nur das Bild des Stromes und des bewegten Wassers als Bild für unser Inneres, sondern greift insbesondere das Bild der Unterscheidbarkeit von Schichten in der See auf. Denn die Beschreibung des Bewußtseinsstroms in literarischer oder therapeutischer Absicht erhellt das verborgene und oft gewaltige Strömen des Unterbewußten, die tieferen Strömungen und Schichten, die diesem Bewußtseinsstrom und allen sichtbaren Äußerungen menschlichen Lebens ja zugrunde liegen, und macht sie sichtbar.
Auch Sigmund Freud verwendet das Bild der See zur Beschreibung des Inneren.2

2 Den Zusammenhang von Freuds Psychologie und dem Meer in der deutschen Sprache weist Georges-Arthur GOLDSCHMIDT hellsichtig und inspirierend auf: „Wenn man Freud liest, könnte man meinen, das Unbewußte sei so beschaffen wie das Meer. Es scheint um eine Senkrechte organisiert zu sein, das Unbewußte, immer tiefer in den Seelenraum abzusinken, während ständig et-was aus der Tiefe aufsteigt...“ (Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache. Zürich 19996, S. 47).

Allerdings ist ihm die See nicht das Bild für die Seele als Ganzes, sondern für einen zentralen Bereich des Seelischen, nämlich das „Unbewußte“ bzw. das „Es“: „Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit wie die Trockenlegung der Zuydersee.“3

3 Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Sigmund FREUD. Studienausgabe, Bd. 1. Frankfurt a.M. 2000, S. 516.

Freud macht hier freilich nicht nur den Zusammenhang von Seele und See in der Psychoanalyse deutlich, son-dern gebraucht gleichzeitig eine der großen zeitgenössischen Ingenieurleistungen – die Zuydersee wurde 1932 durch einen Deich vom Meer abgetrennt und teilweise trockengelegt – als ein doch arg gewalttätiges Bild für den lebendigen Selbstbezug der Seele: Als ob bei der Bewußtwerdung etwas aus der Seele herausgenommen werden könnte, als ob das „Ich“ außerhalb der See seinen Sitz haben könnte, als ob es überhaupt etwas Seelisches gäbe, das außerhalb der See lebendig sein könnte.4

4 Die Verwendung dieses Bildes ist paradigmatischer Hinweis darauf, daß Freud dem Reiz der seinerzeit sehr erfolgreichen positi-vistischen Naturwissenschaften, die glauben, auf eine Epistemologie verzichten zu können, immer wieder erliegt und dazu bereit ist, die lebendige Einheit und den unverfügbaren Selbstbezug der Seele zu opfern. Daraus resultiert auch die Unfähigkeit der Psy-choanalyse als umfassende Kulturtheorie, sich als hermeneutische Wissenschaft systematisch durchzubilden.

Nein, die See ist nicht ein Teil des Inneren, sondern die See ist unsere innere Welt. In uns ist ein großes Meer. Und die Entdeckung und Erkundung dieses Meeres ist unser ureigener Auftrag. In diesem Ozean benötigen wir Seelenbilder als Navigationsgeräte und Seekarten. Oder wie Fernando Pessoa im "Buch der Unruhe" in einer großen Prophezeiung schreibt, eine äußerste „Schärfung unserer inneren Empfindungen“, die in uns „Präzisionsinstrumente zum selbstanalytischen Gebrauch“ schafft.5

5 Fernando PESSOA: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Fischer: Frankfurt a.M 1987, S. 192-194 – Fragment 151.

In meinen Arbeiten lassen sich mehrere Wasserschichten unterscheiden: Die oberen Schichten, direkt unter der Wasseroberfläche, blau, hell und lichtdurchflutet. Darauf folgen – wenn wir weiter in die See hinabtauchen – die mittleren, meist grünen Schichten, in denen die Gegenstände bzw. Empfindungen und Gedanken im diffusen Licht eben erst erkennbar werden. Und schließlich – wenn wir noch weiter hinuntersinken – die dunklen Schichten, der Grund des Meeres mit nur noch wenigen Lichtreflexen, nicht oder nur schwer zu ergründen.


Der Fisch in der See als Bote der Seele

In dieser ständig bewegten See tauchen Bilder auf. Etwas, das nicht sichtbar in den halbdunklen und dunklen Schichten der Seele verborgen war, steigt in die helleren Schichten auf und wird sichtbar. Das Bild dieser seelischen Bewegung ist der Fisch. Er symbolisiert Empfindungen und Gedanken, die aus den Tiefen des unbewußten Wassers auftauchen und wahrnehmbar werden oder dort im diffusen Licht mehr oder weniger schemenhaft zu erkennen sind. Die Lebendigkeit des Fisches wird dabei zum Zeichen der Lebendigkeit unserer Seele. Es macht deutlich, daß die vielfältigen Äußerungen des seelischen Lebens nicht selbstbestimmbar und selbstwählbar, sondern uns unmittelbar gegeben sind. Das, was in der Seele auftaucht, entzieht sich unserem Wollen, um dann zum Gegenstand unseres im besten Fall lebendigen, aufmerksamen, kultivierten und zupackenden seeli-schen Selbstbezuges zu werden. Auch dazu ist der schwer zu greifende Fischkörper analog: Wer je im flachen, trüben Wasser Fische mit den bloßen Händen gefangen hat, kennt die lebendigen und gespannten Sinne und das beherzte Zugreifen. Zu dieser Unverfügbarkeit des seelischen Lebens gehört auch, daß der Fisch wie alle Symbole – und wie überhaupt alle Gegenstände des seelischen Lebens – nicht eindeutig in seiner Bedeutung ist: Er taucht auf, aber was hat das zu bedeuten? "Der Gotteslachs" öffnet den Mund und spricht, doch was sagt er? In Michael Endes Traumsequenz sehen viele einen Eisläufer am Himmel seine Bahnen ziehen und Zeichen in die gefrorene Himmelsfläche kratzen. Sie gehen heim, weil sie die Botschaft nicht entziffern können.6 Der Fisch spricht zu dem, der ihn hört.

6 Michael ENDE: Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth. München 1991, S. 101.

Als Bewußtes, das aus dem Unbewußten auftaucht, wurde der Fisch auch zu einem der ersten Bilder des noch jungen Christentums. Er ist das Bild für Christus, in dem der bis dato verborgene und nur geahnte göttliche Urgrund der Welt sich nun zu erkennen gibt. Der Fisch ist das Bild der göttlichen Selbstoffenbarung. Sein Bild ist im Christentum seit der Mitte des 2. Jahrhunderts belegt, z.B. zeigt die Grabstele der Licinia den Fisch neben Anker und Siegeskranz. Es ist damit wesentlich älter als das Kreuzzeichen. Beim Kirchenvater Tertullian findet sich das erste literarische Zeugnis dieser Christussymbolik. Er schreibt zwischen 200 und 206 über die Taufe: „Aber wir Fischlein werden wie der Fisch, unser Jesus Christus, im Wasser geboren und werden nicht anders als dadurch, daß wir im Wasser verbleiben, gerettet.“7 Christus wird also um 200 ganz selbstverständlich als der Fisch bezeichnet. Gleichzeitig werden die Getauften als Fischlein angeredet.

7 De bap. 3,1

"Der große Wels – oder: Der Traum des Bonifatius" in der Predella des Wandelaltars zeigt einen Christusfisch. Ein Wels schwebt über einem dunklen schwarzgrünen Wasser. Sichtbar wird er im hellen weißgelben Oberflä-chenwasser. Er befindet sich unmittelbar unter der Oberfläche, durch die das Licht einfällt. Markant ist die Bewegung von unten nach oben. Der Rücken biegt sich durch und sein Kopf bewegt sich hin zur Wasseroberfläche: Er ist kurz davor, diese Oberfläche zu durchbrechen. Es ist ein kapitaler Fisch, kraftvoll und offensiv, etwas, das nicht einfach zur Seite geschoben werden kann. Große Frauen und Männer haben große Ideen, sie träumen von großen Fischen. Bonifatius hatte eine Vision: die Missionierung und Christianisierung der germanischen Stämme.
In meinen Arbeiten ist aber nicht allein Christus, der große Fisch, zu sehen, sondern auch wir Fischlein (wenn auch die Fischlein und der Fisch nicht immer eindeutig voneinander zu unterscheiden sind, sollen wir Christen doch Christus ähnlich werden und die Fischlein zu großen Fischen heranwachsen). Fischlein werden in dem Zyklus "Fische aus heimischen Gewässern" vor Augen geführt, z.B. "Aalfromm I" und "Groppenfromm – Das Liegen in den Bachbetten". In "Welsfromm I" schwimmt ein Wels in den dunklen, unteren Schichten des Wassers. Er ist hinabgetaucht zu den Urgründen der Welt. Er erkundet die Abgründe. Ihm begegnet Geheimnisvolles. Diese Kunde bringt er beim Auftauchen in den helleren Schichten der Seele zum Bewußtsein. Gerade das Geheimnisvolle, das sich meist dem schnellen Verstehen entzieht und nicht jedermann jederzeit zugänglich ist, wurde in den protestantischen Kirchen das Opfer einer allzeit verfügbaren Allgemeinverständlichkeit auf geringem Niveau und des Vorschnellen. "Welsfromm I" ist ein Gegenbild des Vorschnellen und Seichten, es stärkt das Geheimnisvolle, das Wissen um den Urgrund und das Abgründige. Indem sie so Vergessenes und Verdrängtes sichtbar machen, haben diese Fischbilder therapeutische Wirkung und bilden die Seele. Seelsorgerlich stärken sie Empfindungen und Charaktere, die in den Kirchen vernachlässigt, klein gehalten oder gar als unchristlich diffamiert werden: "Der große Wels" das Kraftvolle und das Streitbare, "Der Gotteslachs" das Erhabene und das Schöne, das Fischlein in "Groppenfromm" das Ruhige und das Listige. Es sind Bilder zur Hebung der Fischfrömmigkeit.


Der Mensch im Wasser

In der See und in meinen Seelenbildern wird man aber nicht nur der Fische und anderen typischen Wasserbe-wohner gewahr, sondern auch des Menschen. „Ich sank hinunter zu der Berge Gründen“, betet der Prophet Jona im Bauch des Fisches. Aus diesem Psalmwort in Jon 27 entstand im Jahr 2001 das Bild des Menschen im Wasser. Dieses Bild war für mich zuerst einmal das Bild des Menschen, der all die Fische und anderen Wasserbewohner sieht, wenn er in der See hinuntersinkt. Dann wurde immer deutlicher, daß das Bild des im Meer hinuntersinkenden Propheten wie der Fisch eines der elementaren Seelenbilder ist. Es ist eben nicht nur das Bild eines Propheten, der ins Meer geworfen wurde – eine Auslegungsregel im Neuen Testament lautet: Was im Alten Testament geschrieben ist, ist um unsertwillen geschrieben8 –, sondern es ist das Bild von uns Menschen in unserem inneren Ozean. Es ist das Bild des Menschen in seiner Seele. Wenn also der sinkende Prophet, Jona, in die See schaut, dann nimmt er nichts Äußerliches wahr. Wenn Jona in die See schaut, dann schaut er in die Seele. Es ist das Bild für die innere, die seelische Wahrnehmung. Die Seeschau ist die Seelenschau. Und damit ist dieses Bild nicht nur das Bild eines bestimmten Menschen im Wasser, es ist auch nicht nur das Bild des Künstlers und seiner künstlerischen Arbeit – wenn auch der Künstler insbesondere ein Arbeiter in der See ist –, sondern es ist das Bild des Menschen schlechthin. Mensch sein ist Mensch-sein-im-Wasser. Menschliches Leben ist Leben in der See, ist seelisches Leben.

8 1. Kor 910, 1011; Röm 154

"Der sinkende Prophet" sinkt in aufrechter Haltung langsam in die See hinunter. Sein Blick geht zwar nach oben, aber es ist kein Anzeichen von Widerstand zu erkennen. Er ist offen und aufmerksam. Diese Offenheit drückt sich besonders in der linken Hand aus, die merkwürdig zum Betrachter hin geöffnet ist. Diese offene Hand ist wie ein gespanntes Sinnesorgan für die Seele. Eine Art Ohr, ein Auge, eine Haut für die Seele, mit der man empfindet, wahrnimmt, erkennt – sorgfältig, aber nicht wehleidig. Und weil der Prophet, weil wir auf die-sem Bild aufmerksam für unsere Seele sind, ist es ein Idealbild. Auch das Bild Jona wird ins Wasser geworfen. Der Künstler wird berufen zur Arbeit in der See ist ein Idealbild: Jona wurde gerade ins Wasser geworfen und ist in sein Element eingetaucht. Der Körper gibt sich den Kräften des Wurfes und des ihn umströmenden Wassers hin. Und die Luft entströmt aus seinem Mund. Das Ausatmen zeigt an, daß hier der Widerstand gegen die See und das Leben in der See aufgegeben ist. Das Ausströmen ist der Akt der Einwilligung in das seelische Leben.
Alle, die in der See arbeiten, wissen, es gibt Widerstände, in der See zu arbeiten. Widerstände, in die See einzutauchen und die Bilder, die dort auftauchen, wahrzunehmen. Der Künstler klettert auf Bäumen und will nicht schwimmen ist eine Zeichnung aus der Reihe der Künstlerzeichnungen, die die gängigen künstlerischen Produkte zur Kunsttheorie und Ästhetik mit meist vulgärskeptizistischem Hintergrund auch dadurch konterkarieren, daß hier dem Betrachter Kunsttheoreme in einer genauso unmittelbar lesbaren wie offensichtlich hintergründigen Anschauung dargeboten werden: Ein nackter Mann rutscht recht unbeholfen, seine Arme und Beine finden nur notdürftigen Halt, kopfüber auf einem Baumstamm herum. Unter ihm ist ein Wasser zu erkennen. Offenbar hat sich hier jemand verstiegen. Oben auf dem Baum fühlt er sich erkennbar nicht wohl, er will aber auch nicht in sein Element eintauchen: das Wasser. Diese Zeichnung versinnbildlicht den Widerstand der Künstler gegen die See. Zwar ist dieser Widerstand ein Kennzeichen des menschlichen Lebens überhaupt, und die Wahrnehmung der Seele geschieht beständig in der Spannung von Widerstand und Einwilligung. Die Widerstände gegen die See im künstlerischen Beruf sind aber von besonderer Bedeutung, denn der Künstler ist in besonderer Weise ein Seearbeiter: er sucht in der Seele nach Seelenbildern. Meine Malerei ist die Malerei der Seele.
In der See gibt sich aber dem Aufmerksamen nicht nur sein Fühlen und Denken zu erkennen, sondern auch seine sinnliche Wahrnehmung. Allein im Inneren gibt sich auch das Äußere zu erkennen. Denn die Seele ist zwar ein Innen und doch umgibt sie all unsere Wahrnehmungen des Äußerlichen wie ein Außen. Außerhalb seiner selbst kann der Mensch nichts wahrnehmen. Die Mitmenschen, die anderen Mitkreaturen und die unbelebte Welt und schließlich auch Gott können nur seelisch wahrgenommen werden. Alles Wahrgenommene wird in dieser Seelenschau eigentümlich (nicht beliebig oder gar verfügbar) eingefärbt. Das Bild des Menschen in der See als Bild unserer inneren Anschauung, in der sich uns nicht nur unser Inneres, sondern auch das Äußere als Inneres erschließt und zur Erfahrung bringt, ist die anthropologische Grundlage für die systematische Entfaltung einer umfassenden Kulturtheorie, einschließlich der Fundierung einer Theorie aller Wissenschaften.


submarin – der Mensch im Wasser
als Bild des Lebens durch den Tod hindurch


Mit Jona sinken wir noch weiter in die See hinunter. Bis zu den Gründen der Berge, ins Dunkle. Der Wandelaltar submarin besteht aus sechs Tafelbildern. Wird der Altar geöffnet, so ist auf der Mitteltafel ein visionierter Meeresgrund zu sehen, auf dem vereinzelt Lichtreflexe aufscheinen. Dort liegen zwei Tote, dahingestreckt, in leichter Aufsicht. Auf der linken Seite der uns vertraute Jona. Er ist am Ende seines Sinkens angekommen. Wenn hier nun der Prophet liegt, dann ist natürlich auch hier nicht nur er allein gemeint. Wenn hier Jona im Wasser stirbt, ist nicht nur sein Wassertod gemeint, sondern unser Tod, zeitlich voraus, doch unvermeidbar auf unserem Weg liegend. „Da liegt er nun, der Mensch.“9

9 Kirsten HUXEL am 18. März 2007 in ihrem Einführungsvortrag in die Ausstellung submarin von Tim Haberkorn in Tübingen.

Die beiden Seitenflügel führen die Todesthematik fort. Der linke Flügel zeigt Die Sintflut, der vierzigste Tag. Eine Welle, die ins nicht Sichtbare, ins Nurdunkle hinabstürzt und uns gleichsam mit in die Tiefe hinunterreißt. Auf dem rechten Flügel ist ein Brunnen der Tiefe zu sehen. Nach der Sintflutgeschichte öffneten sich für das Chaoswasser, das alles Lebendige verschlingt, nicht nur die Fenster des Himmels, sondern auch die Brunnen der Tiefe. Im Titel wird die Sintfluterzählung mit der Jonageschichte verknüpft: Jona schaut einen Brunnen der Tiefe. Das Wasser, dieser uns so faszinierende und eigentümliche Stoff, ist auch von tödlicher Fremdartigkeit, denn wir können im Wasser nicht atmen und daher nur für eine begrenzte Zeit darin eintauchen. So ist das Wasser nicht nur das Bild unserer Seele, sondern auch das Zeichen unseres Todes. Auf der Mitteltafel liegt neben Jona eine weitere Person. Scheinbar eine Wiederholung. Doch wenn wir genau hinsehen, sehen wir noch etwas anderes. Die rechte Person hält mit ihrer rechten Hand die Hand der linken. Und wenn man das Bild genau liest, sieht man an der Brust dieser Person und an ihrer rechten Hand die Wundmale Christi. Rechts liegt der Gekreuzigte, der uns gleich gewordene, der dem Toten, uns, die Hand im Tod hält. Im Tod hält mir mein Herr die Hand, so der Titel der Mitteltafel. Unabhängig davon, wie man nun zum Christentum und zur christlichen Soteriologie stehen mag, besteht darüber Konsens, daß die Rettung aus dem Tode im Christentum nicht von oben geschieht, sondern auf „Augenhöhe“10: Im Tod ist Gott bei uns auf Augenhöhe, um uns durch den Tod hindurch zum ewigen Leben zu führen. Die dunkle Seite von submarin ist eben kein Nurdunkel und auch kein Memento mori. Nein, hier wird nicht mit dem Tod gedroht, sondern allenfalls mit dem Leben. Denn hier wird dem Leben, nicht dem Tod geglaubt.

10 Helmut ASSMANN, Gespräch mit den Bildern des Wandelaltars submarin. In: Tim Haberkorn, In uns ist ein großes Meer. Der Mensch in der See, S. 42.

Schon bei "Der sinkende Prophet" aus dem Jahr 2003 hatte ich den Einfall, daß dessen so merkwürdig geöffnete linke Hand ergriffen werden wollte und sollte. Und zwar von Gott selbst. Es gibt aus dem gleichen Jahr auch eine Zeichnung mit der haltenden Hand unter dem Titel „Taufaltar“. Ich habe diesen Entwurf bei der ein Jahr später entstandenen Arbeit Ich liege an der Berge Gründen, in der Jona tot auf dem Meeresgrund liegt, nicht verwirklicht. Erst 2006 wurde diese Idee dann in der Mitteltafel des Altars ins Bild gesetzt. Dieser Werkstattbericht zeigt nicht nur, daß wichtige Bilder reifen müssen, sondern vielmehr, daß die Widerstände gegen das Leben erstaunlicherweise meist größer und massiver sind als die Widerstände gegen den Tod. Viele Menschen haben in ihrer Lebensgeschichte oder Familiengeschichte Zerstörung und Tod so erfahren, daß sie nun den Erfahrungen des Lebens keinen Glauben mehr schenken können. Die Seele ist der Schauplatz des Ringens zwischen den Erfahrungen des Todes und des Lebens. Und das ist das Kennzeichen der Sünde: Daß man dem Tod mehr glaubt als dem Leben. Und das ist das Kennzeichen des Heils: Daß man dem Leben glaubt und nicht dem Tod.
"submarin" ist ein Taufaltar. Auch in der Taufe wird der Täufling ganz in das fremdartige, todbringende Wasser eingetaucht. Dieses völlige Untertauchen geschieht bei der meist üblichen Säuglingstaufe nur noch symbolisch durch das Besprengen mit Wasser. In der frühen Christenheit wurden aber in der Regel die Erwachsenen im Taufgeschehen vollständig untergetaucht. Paulus schreibt dazu in Röm 6: „Oder wißt ihr nicht, daß alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft. So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn wir mit ihm verbunden und ihm gleichgeworden sind in seinem Tod, so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein.“ "Im Tod hält mir mein Herr die Hand" ist das Bild zur paulinischen Tauftheologie: Mit Christus sterben und mit Christus auferstehen. Die Auferstehung ist in der Hand Jesu und ihrem Tun, das aller Erfahrung des Todes widerspricht, schon angezeigt.
In submarin wird entsprechend dem Psalm, den der Prophet im Bauch des Fisches singt, die Jonageschichte nicht etwa so gedeutet, daß hier nur einer ins Wasser gefallen und fast ertrunken wäre, wenn Gott ihn nicht wun-derbar errettet hätte. Denn Jona betet so: „Ich sank hinunter zu der Berge Gründen und der Erde Riegel schlossen sich hinter mir ewiglich.“ Wenn er hier davon spricht, daß er bis zu den Füßen der Berge, die unzugänglich für die Lebenden tief im Meer verborgen sind, vorgestoßen ist und diese unzugängliche Grenze der geschaffenen Welt sogar überschritten hat, dann beschreibt er seinen eigenen Tod. Zum Leben wird er durch den Tod hindurch errettet. Im Zentrum der Jonageschichte geht es um Tod und Auferstehung. Unklar bleibt, wie diese Auferstehung geschieht. Das kann uns die alttestamentliche Schrift noch nicht sagen. Aber es wird schon etwas schemenhaft im Nebel sichtbar. Es ist da etwas verschwommen in den halbdunkeln Wasserschichten zu erkennen. Die Prophetengeschichte gibt uns ein Zeichen: der große Fisch. Der Fisch, der Jona rettet, ist das Bild für Christus selbst. So ist auf der Außenseite des linken Flügels das Bild Typologie – "Jona schaut Christus als Walfisch" zu sehen.
Eines der Vorbilder zu diesem Außenflügel ist "Prophet und Fisch". Bei genauerem Hinsehen ist auf diesem Bild noch zu erahnen, daß es sich bei dem Wal ursprünglich um einen Wels handelte. Es hat sich aber nicht nur in diesen Bildern der Wal aus dem Wels entwickelt, sondern die recht ähnlichen Begriffe „Wal“ und „Wels“ sind merkwürdigerweise auch sprachgeschichtlich miteinander verwandt,11 was besonders an der im Donaugebiet für den Wels gebräuchlichen Bezeichnung „Waller“ deutlich wird.


11 KLUGE, 24. Aufl., S. 969 und 982f.

Die ursprüngliche Bedeutung der Namen bleibt allerdings wie bei vielen anderen Fischen im Dunklen. Wahrscheinlich ist eine phänomenologisch einleuchtende Verwandtschaft mit „Welle“.


Das Wasser als Symbol des himmlischen Seins
– Christus im gläsernen Meer


Die rechte Außentafel des Taufaltars zeigt "Christus im gläsernen Meer". Das gläserne Meer ist nach Offb 46 eines der Kennzeichen der von Gott geschaffenen neuen Welt. Im alten Orient war das Meer, in das man eben zum größten Teil nicht hineinsehen kann, vor allem ein Ort der Bedrohung und der Gefahr, das von so ungeheuerlichen Wesen wie etwa dem Leviathan und dem Behemot bewohnt wurde. Das gläserne und daher durchsichtige Meer in der Vision von Johannes ist Teil der himmlischen Seligkeit. Nicht nur hat das Dunkle der Helligkeit und der Klarheit Platz gemacht, sondern auch alles Bedrohliche ist daraus verschwunden. In diesem geläuterten Wasser eilt der Auferstandene geradewegs auf uns zu. Das um die Scham gewickelte Leichentuch bauscht sich im Wasser durch die Vorwärtsbewegung auf und seine Haare wehen im Wasser. Seine rechte Hand streckt er uns entgegen und segnet uns gleichzeitig damit. Als Überwinder des Todes und inspiriert von der tänzerischen Musik Jean-Baptiste Lullys, Georg Friedrich Händels und Johann Sebastian Bachs ist er als Schreitender und Laufender dargestellt. Jeder Schritt ist ein Zeichen gegen den Tod. Und das Laufen des Gekreuzigten ist ganz im Einklang mit seinem Gesichtsausdruck: Das Laufen gibt den Tod, der eben Bewegungslosigkeit ist, dem Lachen und der Lächerlichkeit preis. Das ist das Osterlachen. Das Lachen über den Tod – und das Böse.
Christus läuft aber nicht nur wunderbarerweise in der See, sondern er atmet auch darin. Das Wasser ist nun ganz zum Lebensraum des Menschen geworden und gibt ihm einen leichten Leib, erlöst von seiner Erdenschwere. Dieser Christus ist wie das robbenartige Wesen in Robbenfromm. Das selige Harren der Kreatur, das in Ergänzung zu den Ausführungen von Paulus in Röm 8,19 in aller Seelenruhe auf das Offenbarwerden der Kinder Gottes im Himmelreich wartet, ein Fingerzeig auf die himmlische Leichtigkeit unseres Leibes.
Gegen einen breiten Strom der Tradition ist Christus im gläsernen Meer nicht mit einer asketischen, zurück-haltenden Körperlichkeit, um nicht zu sagen „mager“, dargestellt, sondern er ist von krachender Körperlichkeit.12


12Helmut ASSMANN, Gespräch mit den Bildern des Wandelaltars submarin. In: Tim Haberkorn, In uns ist ein großes Meer. Der Mensch in der See, S. 44.

Er ist untersetzt, er hat Bauch, die Oberschenkel sind stämmig, die Brust ist nicht zu übersehen. Es ist eine Leib-lichkeit Christi, die sich nicht an den populären und virulenten Vorstellungen des Body-Mass-Index orientiert. Sondern es ist das Bild eines nicht ganz ungewöhnlichen Mannes um die vierzig. Mit leiblicher, an der körperlichen Wirklichkeit abgelesener und nicht am asketischen Ideal orientierter Drastik stellt sich hier die Auferste-hung Christi und unsere eigene Auferstehung von den Toten vor die Augen. Denn nicht von unserer Leiblichkeit werden wir erlöst, sondern auch unser Leib wird erlöst. Damit soll nun nicht etwa der Leib über die Seele gestellt werden. Noch soll der Leib im Diesseits gar als Hort des Heils ausgewiesen werden. Er ist es genausowenig wie die Seele. Nein, beides sind die fundamentalen Bedingungen unseres Menschseins.